Als ich vor etwa zwei Jahren auf einer dieser Reisen einen schmalen Küstenpfad im Osten Schottlands entlangwanderte, entdeckte ich eine Höhle, die eine beinahe schon magische Faszination ausstrahlte. Es stellte sich heraus, dass in dieser Höhle einst ein Mann Namens Charlie gelebt hatte. Und Charlie veränderte mein Leben.
Im ersten Weltkrieg hatte er der französischen Armee als Marinesoldat gedient. Doch als sein Schiff im Süden Englands eine Weile vor Anker lag, müssen ihm Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit gekommen sein. Eine altbekannte Gefahr der Stille, weswegen wohl so viele vor ihr davonlaufen. Und hier wird es spannend: Die meisten Menschen in seiner Lage hätten sich damit beruhigt, sich einzureden, doch schlicht keine Wahl zu haben. Vielleicht wären sie von Albträumen geplagt worden, wahrscheinlich hätten sie sich mit immer fahler werdenden Gesichtern über ihr Schicksal beklagt, doch nie hätten sie etwas an ihrer Situation geändert. Sie hätten die Stunden und Jahre bis zur Rente gezählt oder zumindest auf ein baldiges Kriegsende gehofft.
Nicht so Charlie. Charlie lehrte mich, dass man im Leben immer eine Wahl hat. Die Frage ist nur, zu welchem Opfer man bereit ist. Er also fasste den Entschluss, zu desertieren und lief mit leeren Händen und ohne einen Pence in der Tasche 200 Tage lang die Ostküste Großbritanniens hinauf. Dabei ernährte er sich hauptsächlich von Algen – er war Vegetarier. Als er schließlich an ebenjene Höhle kam, entschied er sich, an diesem Ort sesshaft zu werden. Aus Treibholz baute er sich Möbel und eine Hütte. Zwei Katzen liefen ihm zu und er begann, Gemüsebeete anzulegen. Mit der Zeit freundete er sich mit den Bewohnern des nahen Dorfes an, die ihn fortan regelmäßig besuchten, um sein Gemüse zu kaufen und seinen Einsichten zuzuhöhren. Um die Romantik der Geschichte nicht zu zerstören, verzichte ich an dieser Stelle auf die Erzählung seines tragischen Endes, das sich dann 13 Jahre später ereignen sollte. Doch bis dahin war er ziemlich sicher ein beneidenswert glücklicher Mensch gewesen.
Als ich im Herbst 2022 von dieser Reise zurück nach München kehrte, begannen sich zunehmend Zweifel auch an meiner eigenen Tätigkeit breitzumachen. Ich arbeitete in der IT-Branche und durfte mich dann als erfolgreich bezeichnen, wenn dank meiner Arbeit pro Website-User durchschnittlich 1,7 statt 1,5 Proteinshakes im Warenkorb landeten. An besonders erfolgreichen Tagen entschieden sich x+1% der User sogar für den Abschluss eines Proteinshake-Abos. Die Welt wurde dadurch zwar nicht besser, aber immerhin definierter. Was aber sagte Charlie dazu? – Rebecca, man hat eine Wahl. Immer. Und der Rest ist Geschichte.
Doch noch etwas habe ich von Charlie gelernt: Wenn man mit so wenig zum Leben auskommt wie er es tat, muss man seine Träume nicht zugunsten einer Altersvorsorge zurückstecken (für ein Alter, das man womöglich nie erreichen wird). Wer in einer Höhle wohnt, muss keinen Kredit abbezahlen und wer sich von Algen ernährt, braucht keine Proteinshakes.
Doch wie viel oder wenig brauche ich selbst eigentlich zum Leben? Und wo liegen die Grenzen meiner Freiheit? Um das herauszufinden, werde ich für vier Wochen meine Wohnung samt Kühlschrank, Dusche und Daunenbett gegen Transporter, Zelt und Midges eintauschen (und ja, natürlich werde ich mich dafür verfluchen). Zugegeben, damit habe ich immer noch weit mehr, als Charlie je hatte. Doch es ist zumindest eine erste Annäherung. Algen schmecken mir im Übrigen auch nicht.