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Stationsplein 2, 3013 AJ Rotterdam, Niederlande

Es ist gemeinhin bekannt: Ein echtes Abenteuer muss auch als solches losgehen. Ich war also darauf eingestellt, dass nicht alles nach Plan laufen wird (geschweige denn, dass der Plan gut sein würde).

Doch dass mein Reiseplan bereits innerhalb der ersten 60 Minuten scheitert, hat mich dann doch überrascht. Von Rotterdam aus wollte ich heute Nacht mit dem Zug nach Brüssel, weiter durch den Tunnel nach London und schließlich bis nach Edinburgh fahren. Ein stichhaltiger Plan.

Bis mir die nette Dame am Bahnschalter in Rotterdam mit mitleidig-verzerrter Miene erklärte, dass Interrail-Fahrten bereits Wochen im Voraus reserviert werden sollten und es heute Nacht keine einzige Möglichkeit mehr durch den Tunnel geben wird. Doch mit Glück (welches sie kaum fassen konnte) gab es immerhin noch einen Platz für mich morgen Früh.

Nun fahre ich also ohne Plan nach Brüssel und bin gespannt wie es weitergeht.

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Europcar Brussels Midi Railway Station

In Brüssel fand ich schließlich Unterkunft in einem netten AirBnB, das von einem Yogalehrer geführt wurde. Von dem durchdringenden Geruch spiritueller Räucherkerzen musste man absehen.

Die Stadt selbst empfand ich als durchweg unspektakulär, wenn auch verschwenderisch in ihren pompösen Bauten. Meine Abneigung mag durch die vielen Touristen verursacht worden sein, die sich fotografierend an einem Marienplatz-ähnlichen Ort zusammenscharrten, um sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Ich hab dann auch ein Foto gemacht.

Heute Früh ging es dann abenteuerlich weiter. Für die Fahrt auf die Insel musste ich mich am Bahnhof einer strengen Sicherheitsprüfung unterziehen. Dabei fiel der Beamtin das Pfefferspray in meiner Handtasche unangenehm auf. Ich lernte, dass dies in Brüssel als illegal angesehen werde (ich konnte ja aber auch wirklich nicht ahnen, in Brüssel zu stranden!). Die pflichtbewusste Beamtin teilte mir freundlich mit, nun die Polizei verständigen zu müssen. Doch da der einzige Polizist, der zu so früher Stunde schon zum Dienst erschienen war, im Zollhäuschen saß, durfte ich unter Begleitung der Beamtin die zähe Schlange von 40 Wartenden überspringen. Ich war müde und sah überaus harmlos aus, was der Polizist im Zollhäuschen auch zugeben musste. Daher schlug er mir verschwörerisch flüsternd vor, dass er das Pfefferspray heimlich entsorgen könnte und es somit keinen Gegenstand für eine Anzeige gäbe. Ich hatte nichts grundlegendes dagegen, wenn auch ich den Verlust meines Pfeffersprays bedauerte.

Im Zug sitzend konnte ich dann meinen Augen nicht trauen, als mir vom Servicepersonal kostenfreies Frühstück an den Platz gebracht wurde. Wenn man das “Erlebnis Zugfahrt” durch die Deutsche Bahn kennenlernen dufte, wirkte diese Geste fast schon kafkaesk.

Nachtrag: Jetzt laufen sie auch noch durch die Gänge und schenken kostenlosen Kaffee nach.

Nachtrag 2: Wir haben Verspätung unbekannter Dauer, da sie die Weichen nicht richtig einstellen können.

Nachtrag 3: Ab heute befindet sich die Britische Bahn im Streik.

Nachtrag 4: Inzwischen haben sie es bewerkstelligt, die Weichen richtig zu stellen. Doch nun wurde eine Person auf den Gleisen gesichtet. Wahrscheinlich wollte sich ein ungeduldiger Passagier zu Fuss durch den Tunnel begeben. Da wird mein Polizist noch mal ausrücken müssen.

Nachtrag 5: Wir fahren.

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London

Es ist bemerkenswert, was “Erlebnis Bahnfahrt” in anderen Ländern bedeutet. In UK etwa geht das so: Man setzt sich an seinen Platz, um eine Speisekarte und ein Tischdeckchen vorzufinden. Sogleich werden Getränke ausgeschenkt (auf den Wein habe ich fürs erste verzichtet), der Essenswunsch aufgenommen, Chips verteilt. Das WLAN rattert.

Nach dem Hauptgang geht es übergangslos zu Kaffee und Apple Tarte. Und: Das alles ist gratis! Durch mein Interrail-Ticket habe ich noch nicht einmal für die Fahrt gezahlt. Ich könnte also den ganzen Tag kostenlos in britischen Zügen durch das Land ziehen und mich mit veganer Wurst im Blätterteigmantel versorgen lassen (ja okay. An dieser Stelle wird um Nachsicht gebeten, dass in britischen Zügen auch einfach sehr britische Speisen serviert werden).

Nachtrag: Jetzt verstehe ich auch, wieso Fettleibigkeit zusammen mit Alkohol das wohl größte gesundheitlich Problem für die britisch/schottische Gesellschaft darstellt. Die Menschen fahren schlicht zu viel Zug. Gerade wurden schon wieder Kekse verteilt. Gegen den Wein wehre ich mich immer noch mit Vehemenz, schließlich muss ich gleich (links!) autofahren.

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My Cottage

Angekommen!

Fazit: Eine Anreise mit dem Zug ist mit dem Flugzeug in keinster Weise zu vergleichen. Denn: Die Zugfahrt schenkt dem Reisenden ein Abenteuer. Nie weiß man mit Sicherheit, ob der nächste Anschlusszug erreicht werden wird oder ob die Nacht in einer zufällig auf dem Weg liegenden europäischen Stadt verbracht werden muss. Ganz zu schweigen von beflissenen Sicherheitsbeamtinnen und gütigen Polizisten. Dann das Essen – ständig wird man vom Hauptgang, vom nächsten Kaffee und übernächsten Kuchen überrumpelt. Hinzu kommt die permanente Versuchung durch den angebotenen Wein, auch dieser kostenfrei.

Interrail ist damit ein bisschen wie der Europapark – Achterbahn, Geisterbahn und Fressbude in einem.

Jetzt bin ich in meinem Cottage angekommen – und ich liebe es! Heute bin ich zwar zu müde zum Feuer machen, auch fehlt der Whisky noch, doch scheinen hier gemütliche Abende auf mich zu warten.

Nach dem Auspacken meines Gepäcks wurde ich mir unsicher, ob die 16 Bücher wirklich nötig waren. Oder ob 10 nicht ausgereicht hätten? Die fehlende Gewichtsbeschränkung beim Bahnreisen, die ein eigenverantwortliches Packen erforderlich macht, stellte sich (für mich) als eindeutig nachteilig heraus. Denn leider hatte ich beim Packen 45 kg Gepäck als durchaus angemessen befunden. Ryanair hätte getobt. Und mein Rücken tut das auch.

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Arbroath DD11 56.566775, -2.538241, Arbroath, Vereinigtes Königreich

Hello again, geliebte Küste!

Wie kein anderer Ort führt mir das Meer immer wieder die Unzeitlichkeit der Welt vor Augen – und setzt damit mein eigenes Erleben und das Zeitgeschehen auf so herrlich-beruhigende Weise in Relation. Und während ich also in der Abendsonne auf einer Klippe sitze und über die Weiten des Meeres staune, rauschen die Wellen in stoischem Gleichmut immer weiter an die Küste – so, wie sie es immer schon getan haben und wovon sie sich vermutlich niemals werden abbringen lassen.

Ist das Meer nicht wundersam? Während es auf der einen Seite die Kontinente trennt, verbindet es gleichzeitig doch auch die ganze Welt miteinander. Und während es einerseits als riesige Oberfläche den Planeten überspannt, hält es zugleich Tiefen bereit, die wir noch lange nicht verstanden haben.

Und nun der eigentlich Grund, weshalb ich mich heute auf den Weg gemacht habe: Ich musste meine neuen Wanderschuhe einlaufen, damit ich demnächst bereit für die Highlands bin. Doch es gibt ja gar nichts schlimmeres als uneingelaufene Schuhe, und diesen Jammer kann mir nicht mal das Meer relativieren, Unzeitlichkeit hin oder her.

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In my Cottage

Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass das Leben gar nicht mal so unerträglich ist.

Nachtrag: Zur Vollkommenheit der Szenerie fehlt offenkundig Whisky.

Nachtrag 2: Pfefferminztee ist kein adäquater Ersatz. Eigentlich für gar nichts.

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Capel Mounth

Zurück in der Einsamkeit der Highlands. Auf den ersten 15 Kilometern begegnete mir niemand, lediglich ein Reh galoppierte mich um ein Haar über den Haufen.

Später dann traf ich doch noch auf Menschen: Auf einen älteren Schotten, der mit seinem Enkel in Begriff war, einen Munro zu erklimmen. Und während ich oben auf einem Berg eine Pause einlegte, gesellte sich der Schotte zu mir, um mir eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte der Freiheit.

Sein bester Freund hatte sich eines Tages von allem losgesagt, um nur mit seinem Zelt und ein paar Pfund in der Tasche Großbritannien an der Küste entlang zu umrunden. Er vertraute einfach darauf, dass er auf nette Menschen treffen werde, die ihm gelegentlich einen Schlafplatz gewähren würden. Und natürlich tat er das. Ein ganzes Jahr lang war er unterwegs. Später schrieb er ein Buch über diese Zeit, was mitnichten ein Bestseller wurde. Nicht einmal mein netter Schotte, immerhin der Freund des Autors, wollte es mir empfehlen. Dem BIP war dieser Freund damit wohl wenig zuträglich, doch hat er mit seinem Weg vielleicht doch den ein oder anderen an unsere Freiheit erinnert.

Was würde wohl passieren, wenn morgen alle Menschen beim Aufwachen plötzlich erkennen würden, dass sie frei sind? Würden sie ihr Hab und Gut verkaufen um in die Welt zu ziehen? Ihren Job kündigen, mit dem sie schon lange unzufrieden sind? Aus ähnlichen Gründen auch den Ehepartner verlassen? Oder würden sie all das nicht tun und ihr Leben weiterleben wie bisher – nun aber mit dem Glück der Selbstbestimmten?

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The Lobster Shop

Heute zog es mich erneut ans Meer.

Auf dem schmalen Küstenpfad waren kaum Menschen unterwegs (was an dem Schild \240“LEBENSGEFAHR, GESPERRT!” gelegen haben könnte. Davon darf man sich jedoch keinesfalls verunsichern lassen. So wie die Deutschen ihre “Nicht geräumt und nicht gestreut”-Schilder am liebsten noch in wohltemperierten Kaufhäusern aufhängen würden und die Iren ihre Felder mit “CAUTION BULL”-Schildern versiegeln, so ist “Lebensgefahr!” bei den Schotten schlicht das Schild erster Wahl. Also allenfalls als freundlichen Gruß zu werten.)

Die wenigen Schotten, die mir begegneten, warfen mir das in Schottland so übliche “It’s a nice day, aye?” entgegen. Und ich liebe das! Denn obwohl es nicht viel mehr ist als eine freundlich gemeinte Floskel, bringt es mich dazu, kurz über den Tag nachzudenken – um dann festzustellen, dass heute tatsächlich ein schöner Tag ist. Eine Erkenntnis, über die ich mich dann jedes Mal aufs neue sehr freuen kann. So ist es kein Wunder, dass die Schotten ein glückliches Volk sind.

Ich stelle mir vor, diese Phrase in München jedem entgegenkommenden Pasanten vor die Füße zu schleudern. Wahrscheinlich würden sie mir den Kopf abreißen.

Aber jetzt mal unter uns – ein schöner Tag heute, nicht wahr?

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Mein Cottage

Ich habe einen neuen Freund gefunden. Marschierte einfach in mein Cottage und beschloss zu bleiben.

Ich taufte ihn McCarlson.

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Cain Bannoch

Heute gab ich mich dem schottischen Nationalsport hin: Möglichst viele Munros erklimmen. Wobei es dabei weniger um den sportlichen Aspekt geht (der zweifelsohne gegeben ist), als dass es viel mehr eine Frage von Stolz ist. Von Nationalstolz, gewissermaßen. Und da ich im Herzen blutechte Schottin bin, sehe ich die Erklimmung von Munros damit als meine persönliche Pflicht an.

Kleines Schottland-Einmaleins: Als Monros werden die höchsten Berge Schottlands bezeichnet. Und als echter Schotte sollte man im Laufe des Lebens jeden einzelnen mindestens einmal erklommen haben.

Wobei der Begriff “Nationalsport” irreführend sein könnte. Denn nun ist es ja nicht so, dass sich die Schotten dicht gedrängt den Berg raufkämpfen würden, so wie man das von Fotos vom Mount Everest kennt. Schließlich haben die Schotten ihr ganzes Leben lang Zeit – und die nehmen sie sich auch. Heute jedenfalls war keiner da.

Ich hingegen schaffte heute ganze 5 Munros. Doch um die Bewunderung für diese beachtliche Leistung auch seitens meiner alpinen Leserschaft nicht zu schmälern, sehe ich von unnötigen Angaben zu den Höhenmetern ab (denn ich muss zugeben, dass die Alpen dann doch ein wenig höher sind als die Highlands). Aber hey, 5 der höchsten Gipfel Schottlands!

Außerdem ist zu betonen, dass die Herausforderung weniger in den Höhenmetern liegt, als viel mehr in den Bedingungen der Wege – und insbesondere der Nicht-Wege. Und es gibt in Schottland schrecklich viele Nicht-Wege!

Eine weitere Herausforderung sind die Wetterbedingungen. Das Selfie zeigt die Situation “leichter Wind”. Starker Wind hingegen kann auf Grund von Gefahr von Leib und Leben fotografisch leider nicht eingefangen werden.

Und der größte Nicht-Spaß der Highlands sind die sogenannten Wetlands. Das sind weite Felder, die auf Nicht-Wegen überquert werden müssen. Viel schlammiges Wasser, getarnt von harmlos dreinblickenden Grasbüscheln. Jeder Schritt könnte der letzte sein (—der trockenen Fußes zurückgelegt wird, Anm. d. Redaktion).

Ich habe übrigens herausgefunden, wie man das Problem von Blasen an den Füßen wirksam lösen kann: Zusätzlich zum Blasenpflaster einfach einen dicken Wattebausch mit Panzertape außen an den Socken festkleben. Der Style-Faktor ist gering, doch man läuft wie auf Wolken.

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My Cottage

Nach den gestrigen Strapazen und in Anbetracht des heutigen Regens legte ich einen Cottage-Tag ein. Immerhin warten nicht weniger als 16 Bücher darauf, gelesen zu werden.

Doch für einen perfekten Cottage-Abend fehlte – natürlich! – immer noch der Whisky. Ich machte einen Laden im schottischen Nirgendwo ausfindig und ließ mich ausführlich beraten.

Die Wahl fiel auf den Whisky einer kleinen lokalen Distillery. Nun, vor dem Kamin auf dem Sofa liegend kann ich sagen: Er schmeckt nach schottischer Sehnsucht, der Erhabenheit der Highlands und dem ganz großen Abenteuer.

Und manchmal ereignet sich dann Aufregendes selbst an einem ruhigen Cottage-Tag. Direkt bevor ich nach Schottland gefahren war, besuchte ich in Rotterdam eine Konferenz, die mich nachhaltig inspiriert hat. Ich traf auf Menschen, die im Laufe ihres Lebens ihre gut bezahlten Jobs zugunsten ihrer wahren Berufung an den Nagel gehängt hatten. Die eine wechselte vom Maschinenbau zur psychotherapeutischen Tätigkeit, wieder ein anderer vom leitenden IT-Management zum Berater für Studierende. Was viele Menschen dort einte, war neben ihrem Mut, dass sie tief für ihre Sache brannten – losgelöst von finanziellen Kriterien. Ich war begeistert. Bei meiner Google-Recherche stolperte ich dann über den schottischen Ableger dieser Konferenz. Ich nahm direkt Kontakt zu ihnen auf – und erhielt heute von der Vorständin promt die Einladung zum schottischen Jahrestreffen, das in zwei Wochen in Glasgow stattfinden wird. Auf dem Programm stehen neben einem Gala-Dinner, Stadtführungen, Museen und Austausch mein persönliches Highlight: Ein Abend Ceilidh tanzen! Die Einladung nahm ich selbstverständlich sofort an.

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My Cottage

Es wird ernst!

Da ich heute statt des angekündigten Regens von der Sonne geweckt worden war, beschloss ich spontan, mein Zelt einzupacken und auf eine 2-Tages-Tour in die Highlands aufzubrechen. Das Internet wird mich wieder im Stich lassen, doch auf Karte, Kompass und Satelliten wird Verlass sein.

Außerdem traf ich vorgestern ein nettes Ranger-Paar in den Highlands, die mir erzählten, dass sie jeden Tag in den Highlands patrouillieren (auch kein schlechter Job!). Wir würden uns bestimmt mal wieder treffen. Damit wurde mir jegliche Restangst vor den Nächten in den Highlands genommen (wobei ich die fotografierenden Touristen in Brüssel sowieso als weitaus unheimlicher empfand als die erhabenen Highlands, aber das nur nebenbei bemerkt).

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VJH7+XC Newbigging, Ballater, Vereinigtes Königreich

Bei meiner Ankunft am Parkplatz im Nirgendwo war ein Reisebus gerade dabei, einen großen Haufen wanderwilliger Touristen in die Natur zu werfen. Ihrerseits ausgestattet mit nicht mehr als einer Butterbrottüte, waren die Busreisenden sichtlich irritiert über mein schweres Gepäck.

Zu meinem Glück machten sie jedoch schon bei der ersten Anhöhe kehrt, da sie vom ungeduldigen Reisebus mit laufenden Motor zurückerwartet wurden. Es war bestimmt dennoch eine schöne photo opportunity.

Am ersten Munro traf ich dann auf eine erfreulich kleine Gruppe netter Schottinnen. Mir wurde mit tiefer Bestürzung mitgeteilt, dass ich fünf Minuten zu spät sei. Denn da die eine gerade alle(!) Munros zum zweiten(!) Mal in ihrem Leben erklommen hatte, waren kurz zuvor die Prosecco-Korken geflogen. Für mich ergaben die bereits geleerten Flaschen einen nun eher traurigen Anblick. Da gibt es einmal in den Highlands Prosecco(!) und ich komme zu spät.

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Tom Buidhe

Gegen 18 Uhr beendete ich meine Wanderung, um noch lange vor Einbruch der Dunkelheit genug Zeit für den Aufbau des Zeltes zu haben.

Das Zelt hatte ich erst kurz zuvor in Rotterdam gekauft und noch nicht einmal überprüft, ob alle Teile vollständig waren. Geschweige denn, wie das Zelt aufzubauen sei! Doch mit etwas Glück und Geduld war dieses Rätsel dann doch zu lösen.

Ich hatte lange überlegt, ob ich ein 1-Frau- oder ein 2-Frau-Zelt kaufen sollte. Schließlich hätte ersteres wertvolle 600 Gramm Reisegepäck eingespart. Ich entschied mich dann jedoch dennoch für die größere Variante, Gewicht hin oder her.

Und das war eine gute Entscheidung! Nicht nur bietet das Hauptzelt mehr als genug Platz für mich und meine Bücher (denn ja, meine ungelesenen Bücher dürfen auch hier nicht fehlen. Allerdings mussten heute 2 anstelle der 16 ausreichen), zusätzlich wertet das Zelt mit zwei geräumigen Vorkammern links und rechts auf. Ich bin nun also mit einer Dreizimmerwohnung unterwegs (mietfreies Wohneigentum!). Davon könnte so mancher Münchner nur träumen.

Beim Kochen wurde ich von gelangweilten Midges belästigt. Ich musste an den Whisky-Verkäufer von gestern denken, der mir erzählte, gegen die Midges stets Whisky mit in die Highlands zu nehmen. “Hilft Whisky denn gegen Midges?” fragte ich verwundert. “Nein. Aber irgendwann nimmt man sie dann nicht mehr wahr”.

Darin zeigt sich die typisch-schottische Alltagsphilosophie. Wenn du etwas nicht ändern kannst, ändere deine Einstellung. Oder trinke Whisky. It’s a nice day, aye?

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Tolmount

Sandwiches werden ja nicht unbedingt besser, wenn sie 24 Stunden lang von diversen Gegenständen im Rucksack umgeformt wurden.

Davon abgesehen scheint heute wettertechnisch ein guter Tag zu sein – Regen war angekündigt, und doch wurde ich nach 9 Stunden tiefen Schlafes (in der Wildnis schläft es sich doch am besten!) von der Sonne geweckt.

Im Übrigen musste ich feststellen, dass frisch gezapftes Highland-Quellwasser manchmal weniger kristallklar ist, als die Werbung suggerieren würde. Die Chlor-Tabletten tun geschmacklich ihr übriges. An Tag zwei einer Highland-Tour beginnt die Kulinarik manchmal dann doch ein wenig zu leiden.

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My Cottage

Heute ruft die Arbeit (ich bin ja schließlich nicht zum Urlaub da. Wobei aber auch das Wandern in den Highlands alles andere als Urlaub ist, viel mehr ist es körperliche Herausforderung, mentale Konfrontation und Abenteuer mit ungewissem Ausgang).

Mein Outdoor-Arbeitsplatz befindet sich in der Nische einer hübschen Ruine direkt gegenüber meines Cottages. Wenn ich da so an die diversen Großraumbüros meiner vergangener Kunden aus der IT-Branche denke, könnten sie sich in Bezug auf Wohlfühlfaktor, Ruhe und Inspirationsort durchaus etwas von schottischen Ruinen abschauen. Doch einen Nachteil hat das Ganze: Die Umgebung fühlt sich derart natürlich und friedlich an, dass ich mich zu fragen beginne, weshalb wir Menschen eigentlich immer arbeiten und etwas erreichen wollen, anstatt einfach nur zu sein. Die Grenze zwischen einem produktiven Wohlfühlort und dem paradiesischen Stillstand scheint fließend zu sein. Vielleicht macht die IT-Branche ihre Sache mit den vermeintlich gemütlichen und doch so abweisenden Räumlichkeiten gar nicht so schlecht. Ich jedenfalls mache mir nun erst mal einen Kaffee und genieße mein Sein – die Arbeit läuft gewiss nicht weg, weit kommt sie hier nicht.

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Balintore Castle near, Kirriemuir DD8 5JS, Vereinigtes Königreich

Nach getaner Arbeit (das war dann schon gegen Mittag, ich hatte mich einvernehmlich auf einen Halbtagsjob verständigt) brach ich zu einer längeren Tour in die Highlands auf.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sich mir hinter einer Wegbiegung plötzlich ein Schloss offenbarte. Und wie immer, wenn ich unerwartet auf eine schottische Ruine stoße, schellte mein Puls vor Aufregung messbar in die Höhe.

Das Schloss faszinierte mich. Eine geheimnisvolle Dunkelheit ging von ihm aus und irgendetwas schien damit nicht geheuer zu sein. Die Fenster wirkten schwärzer, als es bei diesen Lichtverhältnissen zu erwarten gewesen wäre – so, als würde das Schloss Licht geradezu absorbieren.

Ich entdeckte ein glasloses Fenster und malte mir schon bildlich aus, die Ruine von Innen zu erkunden. Doch das Fenster war winzig und für mein Vorhaben ungeeignet, als ich plötzlich dumpfe Geräusche im Inneren des Schlosses vernahm. Das war der Moment, als mein Herz stehenblieb.

Die Geräusche waren schwer zu definieren, schienen aber mensch(ähn)licher Natur zu sein. Ich trat schaudernd (aber noch immer in tiefer Faszination) den Rückzug an. Als ich am hinteren Anbau entlangschlich, bemerkte ich, dass ein Raum von Kerzen schwach ausgeleuchtet wurde und auf dem Fenstersims Flaschen (Whisky, würde ich vermuten) aufgereiht waren.

Mit Gänsehaut malte ich mir halbtote Kreaturen aus, die hier hausen mochten – bis ich dann ein Fenster weiter eine Waschkammer mit einem Bügeleisen und einer Packung Persil Color-Vollwaschmittel ausmachte. Damit war meine blühende Phantasie mit einem Schlag gestorben – ich konnte mir beim besten Willen nicht ausmalen, dass Dracula seinen wehenden Umhang bei 30 Grad Pflegeleicht mit Persil Vollwaschmittel behandeln würde. Es schien also doch nur ein Normalsterblicher im halbwegs intakten Teil des Schlosses zu wohnen. Was eigentlich eine Enttäuschung war.

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C4PG+JQ Tayport, Vereinigtes Königreich

Für meine Liebe zu Schottland gibt es zahlreiche Gründe. Etwa der, dass es eines der wenigen Länder ist, in dem Wunder möglich sind.

Heute Mittag beschloss ich nach der Arbeit (es blieb auch heute beim Halbtagsjob), für den Kauf von Ölfarbe nach Dundee zu fahren. Im Anschluss wollte ich in der dortigen Gegend Wandern gehen. Heute jedoch war ich zu faul, mir das für das Wandern essentielle Eiersandwich zu machen (was doch, unter uns gesagt, der einzig wahre Grund ist, weshalb ich mich überhaupt auf Wanderungen begebe. Schon bei der Planung der Route wäge ich gedanklich ab, welcher Gipfel oder Strand wohl die schönste Kulisse für die Brotzeit darstellen wird).

Heute also kein Sandwich. Nach dem Kauf der Ölfarbe setzte ich mich für eine Weile zum Lesen in ein Café (ich erinnere an die 16 Bücher). Kurz bevor das Café dann schloss, kam die Kellnerin an meinen Tisch, fasste mich an der Schulter und legte – Achtung! – ein verpacktes Eiersandwich auf meinen Tisch – “Vielleicht kannst du’s heute Abend ja gebrauchen.”

Und ob ich das konnte! Lange saß ich dann mit dem wundersamen Eiersandwich am Strand und dachte ausgiebig darüber nach, wie schottische Wunder wissenschaftlich wohl zu erklären sind.

Vermutlich gar nicht. Über sachdienliche Hinweise wäre ich dennoch dankbar.

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VGG4+36 Dalmunzie House Hotel, Blairgowrie, Vereinigtes Königreich

10 Stunden kletterte ich heute durch die nebeligen Highlands, um über schottische Absonderlichkeiten nachzudenken. Denn gestern Abend – das Eiersandwich war da längst verspeist – hatte ich ein weiteres sonderbares Erlebnis.

Gegen 22 Uhr kam ich nach einem ausgiebigen Abendspaziergang zu meinem Auto zurück, das ich in einem – inzwischen menschenleeren – Industriegebiet abgestellt hatte. Als ich den Autoschlüssel aus meinem Rucksack holen wollte, den ich stets \240doppelt sicher in einer Netztasche im Kopfteil verstaute, musste ich feststellen, dass er fehlte.

Dreimal durchsuchte ich alle Fächer – erfolglos. Mein Geldbeutel lag im Auto, auch die Notfallnummer der Autovermietung und mein Cottage lag 40 Autominuten entfernt – dessen Schlüssel allerdings ebenfalls im Auto lag. Kurz – ich hatte ein Problem.

Und ich hatte keine Idee, wie diese Geschichte jetzt weitergehen sollte. Also setzte ich mich aus Ratlosigkeit erst mal auf den unbeleuchteten Gehsteig des unbeleuchteten Industriegebiets, um konstruktive Überlegung bemüht. Es dauerte nicht lange, da kam ein Auto die Straße runtergefahren – das wahrscheinlich letzte Auto des Tages. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, es anzuhalten. Allerdings hatte ich keine Idee, worum ich es bitten sollte, weshalb ich den Gedanken schnell wieder verworf. Das Auto fuhr an mir vorbei und bog die nächste Seitenstraße ein. Dann war alles wieder dunkel.

Doch kurz darauf kehrte es zurück – wahrscheinlich hatten sie sich über meine ungewöhnliche Ortswahl zum abendlichen Chillen gewundert. Es waren eine Mutter mit ihrer etwa 20-jährigen Tochter, zwei herzliche Schottinnen. Sie nahmen so viel Anteil an meinem Schicksal, dass es sich schon fast nicht mehr wie mein eigenes anfühlte. Ich erklärte die Unmöglichkeit des Verschwindens und zeigte den Rucksack mit seinem Kopfteil. Nach eingehender Untersuchung entdeckte die Tochter schließlich einen versteckten Reißverschluss – ein Geheimfach! Und tatsächlich: Hier fand sich der Schlüssel. Die Mutter umarmte mich vor Freude, die Tochter strahlte. Und ich suchte nach einer Erklärung, wie der Schlüssel in ein Geheimfach gelangen konnte, von dessen Existenz ich bis dahin nichts wusste. Doch das eigentliche Wunder waren die beiden Schottinnen, die im ausgestorbenen Industriegebiet gerade zur rechten Zeit auftauchten, um für mich meinen verlorenen Schlüssel zu finden.

Mein heutiges Nachdenken über Wunder wurde leider allzu regelmäßig unterbrochen – von aufgeschreckten Moorhühnern. Wann immer diese Kreaturen mit ihrem nicht allzu hellem Blick aufflatterten und dabei irritierende Laute von sich krächzten, musste ich unwillkürlich an das Computerspiel aus den 90ern denken und laut auflachen. Da war es schnell dahin mit tieferen Erkenntnissen zu den Gesetzmäßigkeiten des Universiums.

Da man sich im Übrigen auf Wunder nur dann verlassen darf, wenn man sich nicht auf sie verlässt, hatte ich heute wieder mein eigenes Eiersandwich dabei.

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Hill of Glansie

Nach den gestrigen Höhenmetern gönnte ich mir heute Erholung. Nach einem ruhigen Vormittag auf dem Sofa (ich las etwa zwei Seiten. Die Idee, 16 Büchern mitzubringen… also ich weiß ja auch nicht…), brach ich zu einer anspruchslosen Runde ohne Munros auf.

Dafür mit umso mehr Schafen. Wir spielten das Spiel (die Schafe hatten es sich ausgedacht), dass die muntere Herde vorweggaloppierte, abrupt stehenblieb, sich zu mir umdrehte und mich gespannt anstarrte. Kaum war ich nahe genug dran, setzte die Herde ihren Galopp fort und das Spiel ging in die zweite Runde. Wir spielten etwa zwei Stunden und fühlten uns alle bestens unterhalten.

Ich bin mir jedoch nicht sicher wer gewonnen hat, nach Runde 47 wurde das Spiel seitens der Herde für beendet erklärt.

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Kingsbarns Distillery

Geplant war, den Costal Path ab St Andrews immer weiter südlich bis zu einem Naturschutzgebiet zu laufen. Und wie immer kam es anders.

Die ersten drei Stunden blieb es dabei. Die Küste war wunderschön, ein ständiger Wechsel massiver Klippen und sanfter Strände. Bis auf ein paar verstreute Golfer, die ihre Bälle hoffentlich unter Kontrolle hatten, war sie beinahe menschenleer. Doch dann tauchte ein Schild auf, Pfeil nach rechts: “Distillery”.

Distillery! Damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet! Und sofort war klar, dass ich dem magischen Schild folgen musste. Ich bog also in den schmalen Trampelpfad ein, der von der Küste weg ins Landesinnere führte.

Und landete unvermittelt in einem verwunschenen Garten.

Von solch einer Schönheit, dass ich darüber beinahe die Zeit vergaß. Doch diese rannte!

Es war davon auszugehen, dass die Distillery gegen 17 Uhr schließen würde. Und es war bereits fast vier. Zu allem Unglück musste ich feststellen, dass mich der riesige Garten wohl in die falsche Richtung gelockt hatte. Denn als ich endlich einen Ausgang aus dem Garten gefunden hatte (was beinahe unmöglich gewesen war), fand ich mich durch eine tiefe Schlucht von der Distillery getrennt.

Um eine Brücke zu suchen blieb zu wenig Zeit, also kletterte ich kurzerhand durch die Schlucht. Wo ein Ziel da auch ein Weg! Um 16:10 kam ich schließlich atemlos aber wohlbehalten in der Distillery an, meine Hose vom Kletten übersäht, Zweige im Haar. Der Mitarbeiter – wieder einer dieser netten Schotten – begrüßte mich mit interessierter Verwunderung.

Ich fragte – obwohl ich mir keine Chancen ausmalte – ob es heute noch eine Führung gäbe? Er schaute in seinen Computer, überlegte kurz und freute sich dann, mir mitteilen zu können, dass in 10 Minuten die Führung beginnen werde und zufällig noch ein Platz frei sei.

Eine Stunde lang wurden uns in fachkundigem Eifer Geschichte und Hintergrund nahegebracht, bis wir den Whisky endlich dann auch trinken durften.

Er mundete. Mit einer Flasche Whisky im Gepäck und durchaus zufrieden über den Tagesverlauf trat ich schließlich den Heimweg an, drei Stunden die Küste aufwärts.

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Mayar

Ich wurde heute mit dem konzeptionellen Fehler von Rauchmeldern konfrontiert. Denn: bei ihrer Entwicklung wurden wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Neurobiologie ganz offenkundig außer Acht gelassen.

Während in der Küche ein Ei vor sich hinbriet, suchte ich im Bad die Sonnencreme (ja, selbst in Schottland braucht man sie gelegentlich). Plötzlich schlugen alle Rauchmelder gleichzeitig an. Sie grällten ohrenbetäubend, asynchron und passten klanglich noch nicht einmal zusammen. Bei dieser Disharmonie die Ruhe zu bewahren war gänzlich unmöglich.

Und was macht das menschliche Gehirn, wenn es Stress ausgesetzt ist? Richtig. Das rationale Denkvermögen setzt aus. Das Reptiliengehirn übernimmt stattdessen die Kontrolle und befiehlt über Flucht, Kampf oder Erstarren. Herzlichen Glückwunsch.

Mein Krokodil entschied sich zu einer Kombination aus Kampf und Flucht. Ich eilte in die Küche, schnappte mir die Pfanne mit dem harmlosen Ei (was ich mangels rationalen Denkvermögens als Ursache des schrecklichen Pieps-Konzerts wähnte) und verfrachtete sie kurzerhand in den Hof.

Doch bei meiner Rückkehr in die Küche musste ich dann feststellen, dass es der Toaster war, der dieses Konzert dirigierte. Er war gerade war, in Flammen aufzugehen. Um die menschliche Gabe des rationalen Denkens nicht zu behindern, sollten sich die Hersteller von Rauchmeldern also überlegen, statt ihres unästhetischen Piepsens vielleicht eher Beethoven – von mir aus bei vollem Bass, wenn es unbedingt diesen Lärm braucht – ertönen zu lassen.

Das Cottage konnte ich zwar retten, doch der Toast war verloren. Jetzt bin ich mit einem neuen, ungetoasteten Sandwich unterwegs (was geschmacklich nicht sonderlich erstrebenswert ist) und habe die Lektion gelernt, dass das Leben an manchen Tagen Sandwiches schenkt und an anderen Tage Toasts nimmt.

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Abroath

Heute wurde ich von meinem Namen verfolgt. Auf dem Weg zur Küste hatte ich einen spontanen Einfall, den ich direkt in meinem Tagebuch festhalten wollte (was der Grund dafür ist, dass ich mein Tagebuch überallhin mitschleppe). Ich hielt also direkt am Straßenrand. Als ich mit dem Schreiben fertig war und mich umschaute, bemerkte ich, dass ich direkt vor “Rebecca Beauty” geparkt hatte.

Später, in einem Küstendorf, fragte ich eine ältere Dame nach dem Weg. Sie saß mit ihrem Mann im Garten eines Cottages in der Sonne. Sie gab mir die Auskunft, dass jener Pfad wie erhofft zurück ans Meer führen würde. Ich bedankte mich und war schon in Begriff weiterzugehen, als sie sagte: “Wir sind hier selbst nur zu Besuch. Wir wohnen im Rebecca Cottage.”

Irritiert über diese Info gab ich vor, sie nicht verstanden zu haben. Sie wiederholte den Namen des Cottages, ich hatte mich nicht verhört. Als ich ihr dann sagte, dass ich ebenfalls Rebecca heiße, erzählte sie mir die Geschichte von Rebecca, der Namensgeberin dieses Cottages.

Rebecca war eine Krankenschwester, die sich außerordentlich für Kinder mit einer bestimmten Behinderung, einer Spaltung der Wirbelsäule, eingesetzt hatte. Um ihren Einsatz zu würdigen, wurde ihr schließlich das Cottage gewidmet. Familien mit Kindern, die diese Behinderung haben, dürfen seither in diesem Cottage Urlaub machen.

Sie begleitete mich noch ein Stück ans Meer und erzählte mir von ihrer Tochter, die ebenfalls diese Behinderung gehabt hatte. Seit über 50 Jahren kommt sie nun mit ihrer Familie jedes Jahr ins Rebecca Cottage, auch wenn die Tochter bereits vor über 10 Jahren verstorben war. Eine sehr schöne Begegnung mit einer herzlichen Dame. Und wieder eine dieser schottischen Wundersamkeiten.

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Dolphin Spirit Inverness

Heute trieb es mich in den Norden. Ich möchte mit dem Zelt an der Küste ganz oben im Norden übernachten. Also ungefähr dort, wo die Welt aufhört.

Auf dem Weg dorthin galt es aber zunächst, eine Wärmflasche zu besorgen. Meine alte war kaputt gegangen (zum Glück nicht in den Highlands, eine Nacht dort ohne Wärmflasche wäre eine Katastrophe gewesen). Ich musste fünf Läden aufsuchen, ehe ich eine Wärmflasche finden konnte. Sie scheint in Schottland ähnlich unpopulär zu sein wie Briefpapier, für dessen Kauf ich ähnlich viele Anläufe unternehmen musste. Beides ist mir unerklärlich.

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Bonar Bridge Three Bridges Monument

Woran man merkt, dass man sich dem Ende der Welt nähert: Die Straßen werden merklich schmaler, auf welchen man sich jedoch ohnehin alleine befindet.

Und: Auf Barista-Kaffee ist nicht mehr zu hoffen.

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Midges Paradise

Einen Fehler darf man auf gar keinen Fall begehen, wenn man sich im Auto durch die Highlands kämpft: Anhalten, aussteigen, Fotos machen und dabei die Autotüre offenstehen lassen. Denn dann würden ja tausende Midges ins Auto fliegen. Ein konzentriertes Weiterfahren wäre damit schlichtweg unmöglich.

Diese Lektion wurde mir gerade kostenlos beigebracht, von den Midges persönlich (Danke).

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Am Ende der Welt

Bei genauerer Betrachtung ist die Welt schon einfach ein Wunder. Man kann am Münchner Hauptbahnhof in einen Zug steigen, 16 Stunden später in Edinburgh einen Mietwagen nehmen, damit dann 8 Stunden in den Norden fahren – und schon hat man das Ende der Welt erreicht.

Vielleicht sogar das schönste Ende der Welt.

Ich hatte heute Morgen einen beliebigen Punkt an der nördlichsten Küste Schottlands in mein Navi eingegeben und war drauf losgefahrenen, ohne wirklich zu wissen, was mich erwarten würde.

Was mich zunächst erwartete: Straßenverhältnisse, die man in Deutschland nicht mal auf privaten Äckern vorfinden würde. Die letzten 50 Kilometer musste ich mich auf einer einspurigen Asphalt-Schotterpiste durch die Highlands kämpfen, inklusive Sturm und Platzregen. In einem Opel Corsa!

Auf dem Weg beschlich mich dann schon ein beklommenes Gefühl, so weit ins Nichts hineinzufahren, allein und fernab der Zivilisation.

Doch als ich dann am Ende der Welt ankam, fand ich ein Paradies vor. Türkisblaues Meer, Sandstrand und milde Abendsonne. Ich setzte mich ganz an der Spitze der Halbinsel auf ihre nördlichste Klippe. Die Sonne stand bereits tief und das unendliche Meer ruhte vor mir. In diesem Moment war nichts als Frieden und tiefe Schönheit zu spüren.

Und ich habe das bemerkenswerte Glück, ganz alleine an diesem besonderen Ort zu sein. Was vielleicht daran liegen mag, dass das Zelten hier verboten ist. Daher machten sich die letzten Menschen schon gegen 18 Uhr auf den Heimweg, um zurück zu ihren weit entfernten Hotels zu fahren.

Doch jeder weiß: Wo kein Richter, kein Henker und kein Zeuge, da weder Anklage noch Urteil. Und erst recht keine Urteilsvollstreckung.

Jetzt ist Bettzeit. Ich habe die Befürchtung, mich mit meiner neuen Teddy-Wärmflasche für alle Haupt- und Nebenrollen in jeglichen Abenteuerfilmen auf Ewig disqualifiziert zu haben.

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H6PJ+W8 Balnakeil, Lairg, Vereinigtes Königreich

Nachts um drei riss mich ein heftiger Sturm aus dem Schlaf. Die nächsten drei Stunden erörterte ich daraufhin, wie schlau die Idee wohl gewesen war, mein Zelt auf dieser romantischen Klippe direkt am offenen Meer aufzuschlagen.

Vielleicht eben nicht so schlau. Daher erklärte ich widerwillig gegen sechs Uhr die Nacht für beendet und baute das Zelt ab, um dessen Zerstörung zu verhindern.

Doch wie dann vor dem Sonnenaufgang stand, hatte ich dem Wetter bereits verziehen.

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The Pier

Nach dem morgendlichen Schwimmen in irgendeinem der unzähligen Highland-Seen machte ich mich zurück auf den Weg in den Süden.

Und zu meiner Überraschung fand ich tatsächlich einen Barista, irgendwo im Nirgendwo.

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The Owl‘s Mountain

Ich möchte ja keinesfalls der typisch deutschen Angewohnheit nachgehen, mich über das Wetter zu beklagen.

Nun ist es aber doch so, dass die Highlands bei Sonnenschein ein wenig einfältig auf mich wirken. Denn dann fehlen ihnen die unzähligen Farbschattierungen in Grün, Grau, Braun und Blau, wie sie nur hier durch die Gleichzeitigkeit von Regen, Nebel, Graupel und Sonne entstehen können. Und wodurch die Highlands diese ungewöhnliche Tiefe erhalten, die ich so sehr an ihnen liebe.

Glücklicherweise haben sie das selbst erkannt, sodass sie sich kurze Zeit nach Beginn meiner Wanderung wieder in ihrer magischen Schönheit präsentierten.

Bei der Erklimmung des letzten Gipfels war es bereits dämmrig geworden, als ich ungewöhnliche Begleitung bekam. Drei weiß-graue Eulen erschienen und glitten anmutig neben mir durch die Lüfte. Gelegentlich setzten sie sich in meiner Nähe ins Gras und schienen auf bemerkenswerte Weise keine Angst vor mir zu haben. Ich war tief fasziniert von diesen Tieren, die solch einen Stolz und eine Ruhe ausstrahlten. Ich hatte Eulen noch nie so nah in freier Natur erlebt.

Irgendwann verlor ich sie aus den Augen. Doch etwa zehn Minuten später, auf der anderen Seite des Berges, tauchten sie plötzlich wieder auf. Sie schienen irgendwie mit mir kommunizieren zu wollen. Die eine segelte ruhig auf mich zu, blieb dann in der Luft stehen und blickte mich lange an. Irgendwann setzte sie dann ihren Tanz durch die Luft fort.

Was genau sie mir mitteilen wollten, konnte ich leider nicht verstehen. Aber ich glaube, es war sehr weise.

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Glasgow City Chambers

Die Konferenz in Glasgow begann mit einer privaten Führung durch das Rathaus.

Ich lies es mir nicht nehmen, einmal auf dem Chefsessel Platz zu nehmen, um meine Utopien für Gesellschaft und Politik zu verkünden.

Leider war die Anzahl der Zuhörer überschaubar, entsprechend war es auch der Effekt meiner Worte.

Ich lernte eine faszinierende Person kennen: Einen älteren schottischen Physiker, der in Cern arbeitete und Gedichte schreibt, die sich an der Schnittstelle zwischen Shakespeare und Quantenphysik befinden (an welcher sich eine große Schönheit findet!). Wir tauschten uns mit Begeisterung über unser künstlerisches Schaffen aus und freuen uns darauf, später beim Ceilidh unser Gespräch fortsetzen zu können.

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Mackintosh Church

Nachdem mein neuer Cern-Physiker-Dichter-Freund Ian und ich uns einige Stunden über Wunder und Quantenphysik ausgetauscht hatten und darüber, dass Shakespeare schon damals alles gewusst hat (und weitaus mehr), gelangten wir schließlich bei der Bibel an.

Ian teilte mir eine interessante Überlegung mit: Wusstest du, dass der kürzeste Satz in der Bibel lautet „Jesus weinte“ (Jesus wept)?

Und fuhr fort: Stell dir mal vor, was es für die Welt bedeutet hätte, wenn der Satz stattdessen gelautet hätte: „Jesus lachte“?

Was wäre die Welt für eine andere!

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Kelvingrove Art Gallery and Museum

Nach der Besichtigung der Kirche, die der gefeierte Architekt Charles Rennie Mackintosh entworfen hatte (dessen Größe wie so oft erst weit nach seinem Tod erkannt wurde), folgte ein wunderschönes Orgelkonzert in der Kelvingrove Art Gallery. Bach, Beethoven und schottische Komponisten wechselten sich ab.

Ist es nicht erstaunlich, welche Werke Menschen aus dem Nichts erschaffen können? Wir saßen in der pompösen Halle des Museums und waren fasziniert von dem Gedanken, dass dieser Bau zuallererst als bloses Bild im Kopf eines Architekten entstanden war. Hätte man angesichts der Größe nicht sagen müssen, dass seine Idee verrückt sei und damit unmöglich zu verwirklichen?

Vermutlich bekam er das zu hören, und vermutlich nicht nur einmal. Welch ein Glück für die Welt, dass diese Person – wie wohl auch alle andere Größen der Menschheitsgeschichte – anscheinend taub für Zweifler gewesen war.

Manchmal denke ich, dass die Geschichte vom Turmbau zu Babel falsch erzählt worden ist. Denn müsste es nicht viel mehr so sein, dass fehlende Kommunikation geradezu eine Grundbedingung ist, dass wirklich Großes entstehen kann? Weil jede große Idee eine gehörige Portion Taubheit gegenüber Zweiflern, Ignoranz gegenüber physikalischer Gesetzmäßigkeiten und einen Hang zum Realitätsverlust braucht, um verwirklicht werden zu können?

Vielleicht habe ich da was noch nicht verstanden.

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Glasgow

Beim Pub-Quiz am Vortag hatten wir uns als 5er-Team gefunden und waren uns bis zum Schluss treu geblieben. Im Quiz konnten wir zwar nicht sonderlich punkten – der Hauptpreis zog weit an uns vorbei –, was wir jedoch mit Humor zu kompensieren versuchten. Dieser war auch bei unseren anschließenden Ceilidh-Tanzversuchen bitter nötig (Ian ganz links schien mir besser darin zu sein, Shakespeare in Relation zu Einstein zu setzen als einen Fuss vor den anderen. Robert in der Mitte wusste alles über die Musik der 70er-Jahre, doch nichts über Takt. Phil ganz rechts hingegen vergass nie historische Daten, dafür stets seinen Einsatz. Und ich stehe seit jeher in dem zweifelhaften Ruf, „untanzbar“ zu sein. Nur Carol hatte Talent, doch leider auch eine Fußverletzung. Wir waren ein ziemlich einmaliges Team).

Beim abschließenden Gala-Dinner stellte der schottische Lachs eine willkommene Abwechslung zu meinem üblichen Eiersandwich dar. An derartige Delikatessen sollte ich mich jedoch nicht gewöhnen, wo ich schon morgen wieder zurück in den Highlands sein werde – und das ganz sicher ohne Lachs.

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Back to the Highlands

Wenn auch die zwei Tage in Glasgow schön waren und ich spannende Leute kennengelernt habe, so konnte ich es dennoch kaum erwarten, in die Ruhe der Highlands zurückzukehren.

Meine Leidenschaft für das gleichtönige Nichts der Highlands war Richard absolut unbegreiflich.

Ich versuchte ihm zu erklären, dass es sich mit dem Nichts der Highlands etwa wie mit einer weißen Leinwand verhält: Die Leere bietet die große Inspiration der Freiheit, wodurch erst alles vorstellbar wird. Überzeugen konnte ich ihn damit nicht. Er war aber vielleicht auch einfach zu sehr damit beschäftigt, im Takt zu bleiben.

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My Cottage

Und dann, manchmal, fehlt es an nichts.

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Am Meer

Heute schaute ich am Meer mal wieder nach dem Rechten.

Mich erwarteten leere Sandstrände und nicht viel mehr Leben als drei träge Schiffe, die weit draußen am Horizont vor Anker lagen.

Später entdeckte ich einen verwaisten Friedhof. Die Inschriften der Grabsteine waren kaum noch zu entziffern, doch offenbarten schließlich ganze Familiengeschichten. Ich verbrachte eine ganze Weile damit, in die vergangenen Zeiten und Leben abzutauchen. Besonders beschäftigte mich der allseits beliebte und gesellschaftlich angesehene Colonel George. Er hatte für einige seiner Angehörigen poetische Denkmäler aufgestellt, die einige Aufschlüsse über seinen Charakter zuließen. Ein sympathischer Typ. Mit seinem eigenen Tod im Jahre 1908 riss die lange Familiengeschichte dann plötzlich ab. Und irgendwie fand ich den Gedanken sonderbar, dass selbst der lebensfrohe und so sehr im Leben stehende Colonel George nicht unsterblich gewesen war.

Zurück im Cottage ging es dann an die Planung der nächsten Tour. Inzwischen habe ich einen Lieblingsberg (der, auf dem ich die Eulen getroffen habe), welcher vor einem wunderschönen Tal liegt. Vielleicht werde ich morgen dort übernachten.

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White Waters

Das Wetter war heute sehr deutsch.

Es hat viel geregnet.

Und kaum hatte ich mich dazu aufgerafft, meinen Regenmantel auszupacken, überlegten es sich die Highlands doch wieder anders.

Doch wer könnte ihnen ernstlich böse sein. Wo sie doch nie vergessen, einen für die entstandenen Unannehmlichkeiten zu entschädigen:

Später fand ich im Tal „White Waters“, direkt am Fuße meines Lieblingsbergs, ein idyllisches Plätzchen für mein Zelt. Inklusive fließend Wasser, ein willkommener Luxus.

Zum Dinner gab es zur Abwechslung heute einmal Couscous mit indischer Soße. Ob das den Gourmet-Faktor meiner sonst üblichen Zelt-Pasta übertraf, überlasse ich dem Urteil des Betrachters. Zumindest wärmte mir der Topf die Hände.

39
Highlands

Die gestrige Tour war durch die Wetterbedingungen, Kilometer und Höhenmeter körperlich ziemlich fordernd gewesen. Unstete Wege, Schluchten und Geröllfelder erforderten mehr als einmal eine Kletterpartie.

Nachdem ich dann einen idyllischen Ort für mein Zelt gefunden hatte und mein fragwürdiges Abendessen gekocht hatte, war ich direkt eingeschlafen – und erst nach absurden 13 Stunden wieder aufgewacht. Dafür aber voll neuer Energie und bereit für ein morgendliches Bad im Bach.

Heute meinte es neben dem Wetter auch die Verpflegung gut mit mir: Der Zitronen-Flapjack von Tesco schmeckte wie der Gugelhupf meiner Mutter und war damit mit Abstand das Beste, was ich in den letzten Tagen gegessen habe.

In den Highlands beschäftigte ich mich heute weiter mit der Quantenphysik (allerdings eher auf einem philosophischen als mathematischen Level). Denn mich begeistert seine philosophische Bedeutung! Denn mit ihr haben wir eine Wissenschaft, die gewissermaßen auf Wunder hindeutet.

Und damit könnte sie eine ganz große Hoffnung für unsere Zeit darstellen. Damit meine ich nicht all die technischen Anwendungen, die sie potenziell bietet. Viel mehr die Hoffnung auf ein neues Weltbild.

Ein Weltbild, das unserer technischversierten und durchrationalisierten Gesellschaft Wunder wieder näherbringt.

Denn ich habe das Gefühl, dass uns als Gesellschaft etwas Großes verloren gegangen ist, seit wir unser Weltbild rein auf die Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützen, die eben – wie die Quantenphysik zeigt – für immer unvollständig sein werden und damit eigentlich ungeeignet, die Wahrheit unseres Seins zu erklären. Vielleicht habe ich allerdings auch einfach zu viel Zeit da draußen in der Natur verbracht.

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M3XW+4C Forfar, Vereinigtes Königreich

Es gibt nichts schöneres, als nach einer Nacht im Zelt zurück nach Hause zu kommen.

McCarlson hatte mich schon vermisst.

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Highlands

Den Vormittag verbrachte ich damit, meine Rückreise zu planen. Es ist ja nicht so, dass ich die Highlands jemals wieder verlassen möchte. Doch musste ich mich bei der Hinfahrt nach Schottland belehren lassen, dass die Fahrt durch den Tunnel weit im Voraus gebucht werden sollte.

Das Abenteuer ist vorprogrammiert. In einer langen Kette von den Highlands über Edinburgh, London, Paris, Mannheim bis nach München darf nichts schief gehen. Es beginnt damit, dass mir der nette Herr von der Autovermietung versprach, dann in einer Woche schon eine Viertelstunde vor den regulären Öffnungszeiten da zu sein, damit ich das Auto abgeben kann, ohne direkt den ersten Zug in Edinburgh zu verpassen. Bleibt nur zu hoffen, dass keiner meiner vielen weiteren Züge einen Triebwerkschaden, verschnupften Lokführer oder eine verklemmte Weiche hat.

Das klappt niemals. Ich bin gespannt, wo ich stranden werde.

Aber noch ist eine Woche Zeit! Heute war ich wieder in meinem Lieblingstal unterwegs. Sollte ich mich jemals dazu entscheiden, Eremit zu werden, werde ich mich hier niederlassen.

Morgen fahre ich nach Edinburgh, um mich mit meinem früheren Professor/Mentor Euan zu treffen. Jetzt sind es nur noch fünf Tage, ehe ich die Heimreise antrete(n muss). Verrückt, wie viel zu schnell die viel zu schöne Zeit immer verfliegt.

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Peter‘s Yard

Und wie immer war meine erste Anlaufstelle in Edinburgh natürlich das Peter‘s Yard Café – wie damals 12 Jahren, als ich für ein Auslandssemester zum ersten Mal in die Stadt kam. Und das ich seitdem liebe wie kein zweites Café der Welt.

Es ist irgendwie schon spannend, wie man unaufhörlich Tag für Tag seine Geschichte weiterschreibt. Mal mehr, mal weniger bewusst. Eine flüchtige Begegnung oder beiläufige Entscheidung heute kann in zehn Jahren die gesamte Geschichte umgeschrieben haben. Dass ich damals in Edinburgh gelandet bin, war reiner Zufall (also zumindest ein von mir ungeplantes Ereignis, was man wohl gemeinhin als „Zufall“ bezeichnen würde). Ich wollte unbedingt ein Auslandssemester machen, war mit dieser Idee allerdings so spät dran, dass mir schlicht keine andere Wahl blieb. Doch ohne Edinburgh (und besonders ohne die Begegnung meines Mentors Euan) wäre ich vermutlich nie zur interaktiven Kunst gekommen. Und wer weiß, wo ich dann gelandet wäre. Vielleicht wäre ich Buchhalter.

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Arthur‘s Seat

Nach einem inspirierenden Treffen mit Euan entschied ich mich zu einem kleinen Abstecher zu Arthur’s Seat, Edinburgh‘s Hausberg. Während ich hier gelebt hatte, war ich ihn beinahe jeden Abend hinauf gejoggt.

Oben angekommen, lernte ich einen interessanten Psychologen aus Australien kennen. Den Small Talk übersprangen wir, um uns stattdessen für die nächsten drei Stunden über Wunder, Weltsichten und die Bedeutung von Träumen zu unterhalten.

Und wie ich zu später Stunde dann wieder daheim im Cottage angekommen war, wurde ich bereits ungeduldig zum gemeinsamen Abendessen erwartet.

44
Highlands

Natürlich zog es mich heute wieder in die Highlands, wie sollte es anders sein.

Dort beschäftigte ich mich weiter mit der Quantenphysik. Einmal angefangen, will sie mich nicht mehr loslassen.

Sie ist vor allen Dingen eines: Extrem lustig. Denn nicht nur eröffnet sie mir nie geahnte Welten (die mein bisheriges Weltbild komplett auf den Kopf stellen), sondern beschreibt in ihren Gedankenexperimenten Absurditäten, die für sich genommen auch einfach exzellente Unterhaltung sind. Ich unterstelle den verantwortlichen Physikern großartigen Humor.

Ausnahmsweise gab es heute Falafel-Wrap statt Eiersandwich. Nach über vier Wochen bin ich bezüglich der kulinarischen Strapazierfähigkeit an meinem Limit angekommen. Diesbezüglich ist es vielleicht gar nicht so schlimm, dass meine Schottlandzeit am Mittwoch zu Ende geht. Doch in allen anderen Belangen ist es natürlich eine Tragödie.

Ich habe es immer noch nicht über‘s Herz gebracht, McCarlson über meine baldige Abreise zu unterrichten.

45
Highlands

Als ich mich mitsamt Rucksack gerade einen Berg hochkämpfte, kam mir leichten Fußes ein Schotte aus Glasgow entgegen.

Er wunderte sich über mein schweres Gepäck. Als ich ihm sagte, dass ich in den Highlands übernachten werde, fragte er ungläubig, wo ich denn gelernt habe, wie man in den Highlands überlebe? Ob ich Soldatin sei?

Das wäre ungefähr meine letzte Berufswahl – Physikerin hingegen könnte ich mir immer besser vorstellen. Wie gerne würde ich bei diesem Quanten-Spiel mitmischen, dass seit hundert Jahren die Gemüter erhitzt!

Es ist geradezu erstaunlich, wie viel Abwehr diese Theorien und das potenziell neue Weltbild seither produzieren. Während die einen Physiker mutig Undenkbares formulieren, fordern die anderen, gewisse Fragen dürfe man schlicht nicht stellen, Punkt. Etwa die Frage mach einem universellen (geradezu göttlichen) Bewusstsein. Und immer wieder passiert es in den heutigen Debatten zur Quantenphysik, dass Physiker ungewollt in metaphysische oder philosophische Sphären abrutschen, um dann erschrocken zurückzurudern. Die Reaktion auf radikal neuen Sichtweisen, die das fehlende Puzzlestein der Quantenphysik sein könnten, erinnert mich an die damalige Abwehr gegenüber der unsagbaren Idee, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei. Hat auch ein bisschen gedauert.

Als Schlafplatz fand ich einen wunderschönen einsamen See in der Abendsonne. Nach einem kurzen Bad wurde das Abendmahl serviert – Linsen und Kichererbsen französischer Art. Ein Mikrowellengericht von Tesco, dessen geschmackliche Tiefe zu wünschen übrig lässt.

Vielleicht sollte ich einmal beim Militär anfragen, ob sie irgendwelche Ernährungstipps für mich haben.

46
Highlands

In der Früh um fünf wurde ich vom Lärm diverser Schnattertiere unsanft aus dem Schlaf gerissen. Schon wollte ich sie unwirsch auf die gesetzlich geregelte Nachtruhe hinweisen, als ich dann doch davon absah, da ich die schottische Gesetzeslage allenfalls unzureichend kenne. Außerdem hat man als Wildtier wohl jegliches Recht, munter Lärm in den Highlands zu veranstalten.

Zusätzlich war der frühmorgendliche Sonnenschein als mildernder Umstand zu werten. Während ich neben diesen nicht näher zu kategorisierenden Schnattertieren in den letzten Wochen auch die verschiedensten anderen Wildtiere der Highlands gesichtet habe, suchte ich das schottische Nationaltier vergeblich.

Was durchaus schade ist, wo das Nationaltier doch immer auch als Aussage über die Nation und ihr Selbstverständnis zu interpretieren ist. So hat sich Deutschland gemeinhin bekannt für den stolzen, mächtigen, kraftvollen, erhabenen, überlegenen Adler entschieden (es ist anzumerken, dass dieses Symbol nicht unbedingt vor Sympathie und Humor strotzt). Und was macht Schottland?

Schottland hat das Einhorn gewählt. Ist das nicht das coolste anzunehmende Tier für ein Staatssymbol? Ein Tier, das für Wunder, Mythen und Legenden steht und nicht zuletzt zeigt, dass sich die Schotten vielleicht nicht ganz so bitterernst nehmen.

Ich wäre dafür, dass Deutschland diesen ernsten Adler vergisst und stattdessen den Wolpertinger einführt.

Und nach den anstrengenden letzten beiden Tagen gönne ich mir heute einen gemütlichen Abend mit Whisky vor dem Kamin im Cottage. Nur McCarlson lässt noch auf sich warten.

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M3XW+48 Forfar, Vereinigtes Königreich

Jetzt musste ich es McCarlson also doch sagen. Seither läuft er protestierend mauzend durch mein Cottage und versucht mit allen Mitteln, mich am Packen zu hindern. Ach, McCarlson. Du wirst mir doch auch fehlen.

Als würde es mir ohne McCarlson‘s Blockaden gelingen, mein viel zu viel an Hab und Gut irgendwie in Koffer und Rucksack unterzubringen! Von den 16 Büchern habe ich im Übrigen zwei gelesen. Aber es ist ja nicht so, dass ich nicht aus meinen Fehlern lernen würde. Jetzt, wo ich weiß, dass ich ein Achtel aller mitgebrachten Bücher lesen werde, werde ich beim nächsten Mal einfach 128 Bücher mitnehmen, um dann 16 zu lesen. Man darf nur den selben Fehler nicht zweimal machen.

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White Water

Ein letztes Mal wanderte ich durch mein Lieblingstal, White Water.

Die Highlands ließen es sich nicht nehmen, mich mit gleißenden Sonnenschein zu verabschieden (wo ich euch doch auch im Regen liebe, aber das wisst ihr doch).

Zum Glück war der Fluss nicht weit, der zu einem erfrischenden Bad einlud.

Oben am Berg dann das allerletzte Sandwich. Und jetzt, wo es das letzte war, vermisse ich diese fragwürdige Kost bereits. Ebenso meine triviale Zeltpasta und -kichererbsen. Denn bei ganz ehrlicher Betrachtung könnte kein Sternemenü jemals mit dem Erlebnis eines Mahls in den erhabenen Highlands mithalten (naja okay, also diesen einen Couscousbrei nehm ich davon jetzt mal aus).

Was habe ich für besondere Wochen erlebt! Ein Abenteuer voller kleinerer und größerer Wunder. Ach, Schottland. Nur das Einhorn bist du mir schuldig geblieben.

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Starbucks Coffee

Auf der Fahrt nach Edinburgh war so wenig Verkehr, dass ich viel zu früh angekommen bin. Bei der Autovermietung schlafen alle noch und ich vertreibe mir die Zeit mit müdem Macha-Latte.

Weshalb genau bin ich heute schon um vier Uhr aufgestanden?

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VP6P+RR Eyemouth, Vereinigtes Königreich

Jetzt ist dieses großartige Spiel wieder gestartet: Kaum sitze ich im Zug, werde ich mit kostenlosem Essen überhäuft. Ich beginne mit einem vegetarischen Full English Breakfast und kann meine neue Liebe zur Bahnfahrt kaum in Worte fassen.

Bei der Rückgabe meines Mietwagens heute Morgen hatte ich ein weiteres schönes Erlebnis. Der nette Schotte der Autovermietung half mir, den Koffer aus dem Kofferraum zu hieven und war beeindruckt von dessen Gewicht. Ich versicherte ihm, dass ich in den Highlands täglich trainiert habe und es daher kein Problem für mich darstelle, mit Koffer und Rucksack die zwanzig Minuten Fussweg zum Bahnhof zurückzulegen. Ich verabschiedete mich und zog los. Doch schon an der nächsten Kreuzung holte mich der Schotte ganz außer Atem ein und teilte mir freudestrahlend mit, dass er für mich einen Fahrer organisiert habe, der mich nun zum Bahnhof fahren werde.

Menschen. sind. einfach. so. nett.

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Bahnhof Paris-Nord, 18 Rue de Dunkerque, 75010 Paris, Frankreich

In London gab es auch diesmal Probleme bei der Sicherheitskontrolle – diesmal hatte ich kein illegales Pfefferspray mitgeführt, sondern illegales Campinggas. Schon wieder helle Aufregung, in deren Folge ich zur Abgabe meines Besitztums genötigt wurde.

Bei meinem Zwischenstopp in Paris empfängt mich eine Wand aus 32 Grad und lebhafte Menschen, die in den zahlreichen Eckbars beflissen gegen die Hitze antrinken. Bald geht es weiter nach Mannheim. Leider allerdings mit einem deutschen ICE. Heißt, der Traum der kostenlosen Speisen ist nun wohl vorüber, stattdessen gibt es kein funktionierendes Internet und schon jetzt eine Verspätung von 30 Minuten – und da ist der Triebwerkschaden noch gar nicht eingepreist.

52
DB Reisezentrum Mannheim Hbf

Mein ICE von Paris erreichte Mannheim mit etwa einer Stunde Verspätung. Was nicht weiter schlimm war, da mein Anschlusszug sowieso erst um 2 Uhr Früh abgefahren wäre. Was planmäßig eine unangenehme nächtliche Wartezeit von mehreren Stunden am Mannheimer Bahnhof bedeutet hätte.

Doch auf die Deutsche Bahn ist Verlass. Als ich ausstieg, fuhr gerade ein anderer ICE mit dem Ziel München am gegenüberliegenden Bahnsteig ein – seinerseits mit einer Verspätung von fast drei Stunden. Ich konnte direkt umsteigen. Mich ereilte also das absurde Glück, mir dank der DB-Unpünktlichkeit ganze 4 Stunden Reisezeit eingespart zu haben. Damit geht die Deutsche Bahn im internationalen Bahnvergleich ganz klar als Gewinner hervor. Wer braucht schon Gratisessen, wenn für maßgeschneiderte Verspätung gesorgt wird.

Nachtrag: Ich habe gerade einen Brownie geschenkt bekommen. Als Entschädigung für die objektive Verspätung (was für mich doch eine subjektive Verfrühung war). Oh, Deutsche Bahn, jetzt hast du vollends mein Herz gewonnen.

53
Bahnhofpl. 1, 80335 München, Deutschland

Zurück Zuhause!

Und das mit vier Stunden Verfrühung. Was war es doch für eine wundersame Reise.

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53WX+JP Ullensaker, Norwegen

Nach einem kurzen Zwischenstopp in München zum Koffer auspacken, Wäsche waschen, Zimmerpflanzen begrüßen und Koffer wieder einpacken geht es weiter nach Bodø, Norwegen.

Diesmal allerdings ganz klassisch mit dem Flugzeug. Während der Flug leider wesentlich weniger Abenteuer als eine Zugreise bereithält, bietet er zumindest eine willkommene Gelegenheit zum Schlafen, da man hier ganz sicher nicht von kostenloser Verpflegung überrascht wird.

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Quality Hotel Ramsalt

Ich hatte mich ja über den Mangel an Abenteuer während einer Flugreise beschwert. Das blieb seitens der Norwegian Airline natürlich nicht ungehört. Bei der Gepäckausgabe zogen meine Mitwartenden nach und nach mit zufriedenen Mienen von dannen, ihren Koffer hinter sich herziehend – nur ich blieb als einzige mit leeren Händen zurück. Mein Koffer war wohl verlorengegangen.

Was jedoch halb so wild ist. Nach mehreren Nächten in den Highlands brauche ich zum guten Überleben nicht viel mehr als Zahnbürste, Tagebuch und Musik. Glücklicherweise transportierte ich all das in meiner Handtasche. So konnte ich mich einfach darüber freuen, ohne schwere Koffer durch Bodø spazieren zu können. Und über das Abenteuer, natürlich.

Nun sitze ich in der Hotelbar und beobachte Fischkutter, die müde im Hafen eintrudeln. Das mache ich mindestens so gerne, wie Güterzüge an großen Umschlagplätzen zu beobachten. An Häfen und Bahnhöfe liegt immer die Möglichkeit des Aufbruchs in das Unbekannte in der Luft, was in mir immer große Sehnsucht weckt. Welch schöne Orte!

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769X+H4 Bodø, Norwegen

Mit der Fähre \240geht es weiter auf die Insel Sørvær, auf der ich zusammen mit Håvard (Komponist und Besitzer eines Teils der Insel) die nächste Kunstinstallation bauen will.

Die nächsten Tage stehen daher philosophische Diskussionen und die Planung von Anträgen für Fördergelder auf dem Plan. Es ist nur ungünstig, dass sich das wichtigste Utensil für unsere Inspiration im verlorenen Koffer befindet – der schottische Whisky. Immerhin wurde der Koffer heute Morgen in Oslo gesichtet, jetzt muss er nur noch zu mir auf die Insel kommen.

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Sørværet 2-4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Zurück auf der Insel! Bei meinem letzten Besuch im März ruhte sie tief eingeschneit im einsamen Winterschlaf.

Diesmal hingegen herrscht reges Treiben. Große und kleine Vögel, Schmetterlinge, drei neu zugezogenen Hühner und diverse Krabbentiere stellen den größten Anteil der Sommertouristen dar.

Und nicht zu vergessen ist die aufgeweckte Herde neugieriger Schafe am anderen Ende der Insel, die sich intern höchst uneins darüber zu sein scheint, ob man menschlichen Wesen über den Weg trauen dürfe.

Entgegen der vorherrschenden Meinung vertritt das schwarze Schaf als einziges diese mutige Auffassung. Hallo!

Desweiteren lebt eine ältere Frau zusammen mit ihren Eiderenten auf der Insel. Nach alter norwegischer Tradition werden Häuser leicht erhöht gebaut, sodass die Enten darunter wohnen können. Zwischen Mensch und den Tieren besteht meist eine enge Bindung. Neben den Eiern werden die verlorenen Daunen aus den Nestern gesammelt, um daraus Dauendecken herzustellen. Für eine Decke pro Jahr werden etwa 60 Nester benötigt (oder nur ein einziges Nest und 60 Jahre Geduld). Immerhin haben diese besonderen Decken einen Wert von 20.000 € und erfreuen sich bei den Royals großer Beliebtheit.

Nach dem gemeinsamen Abendessen mit Håvard und den anderen Künstlern, die gerade im Arctic Hideaway wohnen, ließen wir den Abend mit einem kleinen Privatkonzert vom Håvard ausklingen.

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Nordic Sea

Heute Vormittag besuchten Håvard, Vibeke und ich die umliegenden Inseln. Zu der Inselgruppe gehören etwa 300, die meisten davon sind unbewohnt. Und von großer Schönheit.

Wir diskutierten über die politische Situation in Norwegen – erst vorgestern hatten Kommunalwahlen stattgefunden, und leider finden auch hier die stumpf-populistischen Versprechen der rechts stehenden Parteien durchaus Anklang.

Håvard zeigte uns eine Insel, die es so bald nicht mehr geben wird. Ein einflussreicher Industrieller hat sie gekauft, um dort in den nächsten zwei Jahren eine Lachsfabrik zu errichten. Dazu wird die Hälfte der Insel gesprengt werden. Unwiederbringlich.

Die Politik ist taub für gegnerische Argumente, da es seitens der Naturschützer ja „nur um Gefühle“ gehen würde. Nur um Gefühle. Mir ist nicht ganz klar, worum sonst es im Leben eines Menschen gehen könnte.

Als wären wir Menschen nicht Teil der Natur, und als wären Gefühle nicht der einzige Weg, mit unserem tiefsten Ursprung in Verbindung zu treten. Und vielleicht der einzige Weg, unserer Wahrheit näher zu kommen.

Meine neue Freundin Takk, mit der ich die Diskussion später fortsetzte, war ebenfalls ratlos.

Unverständlich. Manchmal sind mir Menschen unverständlich.

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Sørværet 2-4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Der Tag begann mit zaghaftem Sonnenschein und selbstgebacken Brot von Lavinia. Erst kürzlich hat sie ihren Job als Softwareengineer in Zürich aufgegeben – für ihre Kunst, und auf der Suche nach Sinnhaftigkeit. Wir unterhielten uns über die Tech-Branche, in der hochtalentierte Menschen tagtäglich große Nicht-Probleme der Welt lösen und das goldene Kalb der künstlichen Intelligenz umtanzen.

Nach dem Frühstück gab ich mich dann der meditativen Arbeit hin, einen Berg Kartoffeln zu schälen. Heute kommen 10 Kinder auf die Insel, um Häuschen für die Eiderenten zu bauen – ein von Vibke initiiertes Projekt, um Kindern die Natur näher zu bringen. Mit großem abendlichen Hunger ist zu rechnen.

Nun sitze ich im Turm und arbeite am Konzept meiner Ozeaninstallation. Gestern erreichte mich eine wundersame E-Mail. Anscheinend gab es einen Open Call für die Förderung von Kunstprojekten in der Region von Bodø (wo sich die Insel befindet), da Bodø zu meinem großen Glück 2024 europäische Kulturhauptstadt sein wird. Ich wusste nichts von diesem Open Call und die Deadline war bereits vor vier Tagen verstrichen. Doch nun schrieb mir die Chef-Kuratorin persönlich mit der Bitte, ihr eine kurze Beschreibung meiner Installation zu schicken. Ich weiß nicht genau, wie es dazu kam (vielleicht hatte Håvard irgendwelchen Kulturmenschen von Bodø einmal von meiner Idee erzählt?), auf jeden Fall fühlt sich die E-Mail nach großem Glück an.

Mal sehen, was die liebe Takk später zu all dem sagen wird. Vermutlich wird sie wieder ratlos sein.

60
Sørværet 2-4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Ich unterbrach meine Arbeit, als ich die verzweifelte Henne Kylli bemerkte. In einem Anflug von Übermut war sie aus ihrem Gehege ausgebrochen, um dann, getrennt von ihren Freunden, Angst vor der Freiheit zu bekommen.

Anstatt nun also die Insel zu erkunden oder im Meer schwimmen zu gehen, lief sie in heller Aufregung und ohne Unterlass vor dem Gehege auf und ab. Ich versuchte ihr etwas von Freiheit und Verantwortung zu erklären, schien dabei jedoch auf wenig Verständnis zu stoßen. Schließlich beförderte ich sie zurück in ihr Gehege, auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin.

61
Sørværet 4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Wir trafen uns zum Abendessen mit den norwegischen Kindern/Jugendlichen, die unter Tags die Häuschen für die Eiderenten gebaut hatten. Sie erzählten Geschichten aus der norwegischen Natur, zu der sie ganz offensichtlich einen starken Bezug hatten.

Eine Lehrerin erklärte mir später, dass es sich um eine besondere Schule handelte. Die Kinder hätten diverse “Diagnosen” wie ADHS, weshalb die Klassen sehr klein seien und viel Unterricht im Freien stattfinde. Erst kürzlich seien sie vier Tage auf einem Berg gewesen, in zwei Wochen gehe es auf Elchjagd.

Die Kindern waren richtig cool. Niemand hatte ein Smartphone dabei, stattdessen erklärten sie mir, woran man ablesen könne, an welcher Stelle es gute Fische zu fangen gebe. Für diese Menschen wird es später eine Selbstverständlichkeit sein, auf die Natur aufzupassen. Angesichts der Lage des Planetens fragte ich mich, ob ein derartiges Schulsystem nicht wesentlich sinnvoller für unser aller Zukunft wäre als 13 Jahre Auswendiglernen im Klassenzimmer, am iPad, versteht sich.

Mit Whisky, Sonnenuntergang und schließlich Polarlichtern neigt sich der Tag dann seinem Ende entgegen. Gute Nacht.

62
Sørværet 2-4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Heute kamen zwei neue Gäste auf die Insel. Ein Soundengineer aus Bodø und ein Entrepreneur aus Seattle.

So kam ich zu einem witzigen Projekt: Der Soundengineer arbeitet gerade für eine norwegische Firma an einem Audio-Reiseführer für die Gegend. Busreisende Touristen werden damit im fahrenden Gefährt standortbasiert beschallt werden. So erfahren sie alles wichtige über die Region, ohne den Bus auch nur verlassen zu müssen.

Nun waren sie auf der Suche nach der deutschen Stimme. Der Job ist gut bezahlt und busreisende Touristen liegen mir von Hause aus am Herzen, sodass ich das Angebot natürlich nicht ausschlagen konnte.

Sollte es ihm gelingen, bis Sonntag das nötige Equipment auf die Insel zu schaffen, wird meine Stimme ab 2024 etwa zehn Jahre lang Busreisenden alle Fakten und Hintergründe der Region nahebringen. Es wird sich für sie fast so anfühlen, als wären sie selbst ausgestiegen.

Doch vorher gibt es weit wichtigeres zu tun. Morgen Früh fahren wir auf eine andere Insel, um 150 Schafe einzusammeln. Dabei darf keines ins Meer fallen, da die Wolle im Wasser so schwer werden würde, dass das Schaf untergehen würde. Dieser Job ist höchst verantwortungsvoll, unbezahlt – und ich kann ihn kaum erwarten.

63
Die Schafinsel

Das Schafprojekt begann am frühen Morgen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer waren zusammengekommen, um gemeinsam auf die Schafinsel überzusetzen. Die dortigen Tiere sollten vom Süden in den Norden in ein Gehege getrieben werden.

In der Theorie klang alles schrecklich einfach, in einer Klausur hätten wir nicht weniger als 15 Punkte erzielt.

Doch wie so oft im Leben kam dann die Praxis dazwischen. In Form von starkem Dauerregen (der Klimawandel!, erklärte mir ein alter Wikinger) und störrischen Schafböcken, die Hörner voran die Menschenkette durchbrachen, unsere Theorie dabei völlig außer Acht lassend.

Sobald wir auch nur von einem Schaf überlistet worden waren, ging das Spiel ganz im Süden wieder von Vorne los – gehe zurück auf Los.

Nach Runde drei konnten wir uns schließlich durchgefroren und völlig durchnässt gegen die Herde durchsetzen.

Die verdutzten Tiere wurden auf Fischerboote verladen und auf eine andere Insel geschifft. Sonderlich glücklich schienen sie über die Wahl ihres Transportmittels nicht zu sein. Aber vielleicht waren sie auch einfach enttäuscht, das Spiel gegen uns verloren zu haben.

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Sørværet 2-4, 8094 Fleinvær, Norwegen

Bei einem ausgedehnten Frühstück erzählte mir Vibeke von der samischen Mythologie. Sie selbst stammt von einer kleinen norwegischen Insel und ihre Ur-Ur-Urgroßmutter war eine Sami gewesen. Also vielleicht so etwas wie eine weise und stark naturverbundene Sehende.

Später dann ging es an die Arbeit! Schließlich wollte ein Reiseführer eingesprochener werden.

Leider war dieser sehr viel weltlicher als die magische Mythologie der Sami. Zu ihrer linken sehen Sie den Flughafen, schräg rechts den Bahnhof und da vorne ein Verwaltungsgebäude. Vielen Dank für Ihre Ausmerksamkeit und ein schönes weiteres Leben.

Und dann war ist der letzte Abend angebrochen. Da blieb nicht mehr zu tun, als zusammen die letzten Reste des schottischen Whisky auszutrinken.

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Stormen Concert Hall

Wenn der Produzent des Audio-Reiseführers gerade keinen Audio-Reiseführer produziert, ist er der technische Leiter der Stormen Concert Hall in Bodø.

Und da wir die Insel mit der gleichen Fähre verlassen hatten und mir noch zwei Stunden bis zum Abflug blieben, bot er mir eine Führung durch das Gebäude an.

Ich liebe es, geheime Einblicke in derartige Gebäude zu bekommen! An seiner Stelle würde ich den ganzen Tag lang auf der fahrenden Brücke über den Konzertsaal schweben.

Einen Saal weiter fand gerade eine Probe statt. Entweder war das Stück sehr modern – oder die Musiker müssen noch ein bisschen üben.

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Oslo Airport

Wenn sie in Oslo eines können, dann sind es Pistazienbollen.

Oh Norwegen, in’s Herz hab’ ich dich geschlossen!

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Zentralbereich Ebene 03 München Airport Center, 85356 München-Flughafen, Deutschland

Diesmal hat es auch mein Koffer gepackt. Zusammen kamen wir wohlbehalten in München an.

Damit verabschiede ich mich für’s erste von diesem Blog – vielen Dank an meine treuen Leser! :-)